Meine Progressive Netzpartei

Die folgenden Vorbemerkungen sind, glaube ich, notwendig, um meine nächsten paar Blogpostes zu verstehen. Auf einen früheren Beitrag habe ich ja viel Feedback erhalten, dass „wir Piraten“ „selbstverständlich“ den Gründungsmythos, den gemeinsamen Wertekanon hätten. Wirklich?

Mir geht das alles auf den Wecker. Aber sowas von.

Ist es Zufall, dass Leute, die mit ziemlich postmateriellen Positionen zum Urheberrecht, Patenten und Monopolen, mit Privatsphäre, transparentem Staat und OpenData angetreten sind, im Laufe der Zeit auch zu einem Bedingungslosen Grundeinkommen, Drogenlegalisierung, einer solidarischen Asylpolitik, dem Motto „Grenzenlos“, Queer-Rechten, freier Wahl des Zusammenlebens und was weiß ich noch alles kommen?

Kommt das, weil sie „liberal“ sind? Weil sie „links“ sind? Weil sich Mehrheitsverhältnisse verschoben haben? Nein. Für mich ist das eine völlig natürliche Folge davon, dass sie aus dem Internet kommen! Meine Piraten sind weder eine FDP mit Internetanschluss noch eine LINKE mit Internetanschluss. Sie sind der Internetanschluss fürs und ans Parlament.

Ich erinnere mich gut an meine ersten Schritte in diesem Internet: Usenet. Zuhause Akustikkoppler. Das erste Modem war verboten, weil ohne FTZ-Zulassung. Aber 2400 baud waren sooo geil. Den ersten Mailaccount an der Uni, dann der erste in der Abteilung. Zuerst saß ich etwas ratlos vor sowas wie dem hier. Wenige Jahre später tauschte ich mich im Netz aus über Coden, Amateurastronomie und Fahrräder und lernte, dass Bildkompositionsregeln beim Fotografieren nicht immer so funktionieren wie ich mir das dachte – z.B. nicht für Leute, die von rechts nach links oder von oben nach unten schreiben. Auch wenn es mitunter schwierig war, das rauszubekommen, so ganz ohne translate.google.com.

Wer was wusste, half denen die es nicht wussten. Ich hörte auf Menschen, die ich nie gesehen hatte, lernte zu unterscheiden, welchen Informationen ich vertrauen konnte und welchen nicht. Dennoch: Mein Gegenüber blieb abstrakt in allem, was nicht explizit über die Leitung ging. Manchmal leider, manchmal Gott sei Dank – etwa als eine meiner Sockenpuppen mit einer heutigen Europaabgeordneten mit Vogelnamen aneinandergeriet. Aber meistens war es gut. So habe ich Leute kennengelernt, die ich in diesem tollen „RL“ nie kennengelernt hätte. Und sie dann zu treffen, war immer ein Abenteuer, immer eine Überraschung. Das ist heute noch auf Parteitagen so. Hosen- (oder Kleider-) Größe, Hautfarbe, schwul-trans-weißnicht, keine Beine, kommt vom Arsch der Welt, kommt abgerissen oder mit Ferrari – who the fuck cares? Was für ein geiles Gefühl, wenn Du merkst, was Vorurteile für ein Bullshit sind, wie sie eben Vor- und keine Urteile sind. Und weil sie – wieder einmal – ü-ber-haupt-nicht funktioniert hätten.

On the Internet, no one knows you’re a dog.

So war das. Damals. Dass das Netz heute manchmal anders rüberkommt, mag sein. An meiner Netz-Sozialisierung ändert das nichts.

Und aus so einer Sozialisierung heraus ist es völlig unmöglich, anderen Leuten sagen zu wollen, wie sie leben sollen – ohne den leisesten Schimmer, was die sich vom Leben wünschen. Oder sie im Mittelmeer zu versenken – soll es denen doch woanders schlecht gehen oder was? „Ausländer“ – das sind Leute mit anderer TLD. Sonst noch was? Wie könnte ich mich über irgendeins erheben, nur weil ich zufällig hier auf die Welt gekommen bin?

Um an dieser globalen Gesellschaft teilnehmen zu können, dürfen die Menschen genausowenig mit Hunger überzogen werden, wie mit Krieg. Bedingungsloses Grundeinkommen oder mindestens sofortige Abschaffung der Sanktionen bei ALG II – was sonst? Und nicht teilnehmen können die Menschen auch, wenn Mächtigere sich die Ressourcen unter den Nagel reißen. Also gegen TTIP, alternativlose Bankenrettung und Wasserprivatisierung genauso wie gegen Blockadepatente und solche auf Leben.

Netzneutralität, Datenschutz und das Teilen von Inhalten sind Werte für sich – wie anders, als das ganz zwanglos ins wirkliche Leben zu verlängern: Wohin Du willst – mit fahrscheinlosem ÖPNV. Der Provider – wir nennen ihn Staat – muss gläsern sein und nicht die Menschen. Die Inhalte – Daten und das daraus abgeleitete Wissen – sind frei. Free as in free speech, not as in free beer. Versteht das überhaupt noch jemand hier?

In einer Zeit, wo die Grenze zwischen virtuell und anfassbar zunehmend verwischen – da ist der Download aus der Tauschbörse halt nur der erste Schritt in eine postmaterielle Gesellschaft gewesen. Der Commons-Antrag von Bochum II: Meint Ihr im Ernst, das war Zufall?

Diese paar Zeilen zeigen natürlich nur die Spitze des Eisbergs. Trozdem – oder gerade deswegen – ist die Sache für mich völlig klar:

  • Kernthemen – das ist wie wir leben wollen.
  • Netzpolitik ist Gesellschaftspolitik.
  • Sich über „Netzpartei“ oder „progressiv“ zu streiten: Unfug. Denn vom Netz aus gesehen, ist das alles eins.
  • Und es gibt viel zu tun. Sehr viel.

Wie gesagt: So sehe ich das. Und deswegen sitze ich Tag für Tag kopfschüttelnd vor Twitter, Mailinglisten oder im Mumble. Aber wenn ich dann erlebe, dass dort tiefnachts eine Bezirksabgeordnete aus Xhain dem LVor aus Schleswig-Holstein erzählt, wie sie mit der öffentlichen Verwaltung zusammenarbeitet und ein Ex-Schatzmeister aus Berlin fragt in NRW nach, wie dort die Aufgabenverteilung im Schatzmeisterteam funktionert, dann macht mir das Freude. Denn die machen es einfach. Das mit dem „piratig“.

So much Netzpartei. So progressiv.

Und ihr so?

11 Gedanken zu „Meine Progressive Netzpartei

  1. Jo, und wenn klare antifaschistische Aktionen gestartet werden, machen die das einfach mit dem piratig. Ebenso, wenn es um Flüchtlinge, anarchistische, kommunistische, antimilitaristische und feministische Inhalte geht. Und die Konsequenzen einer Politik, die dem und der Einzelnen gravierende Mitbestimmungsrechte im politischen, gesellschaftlichen und vor allem auch wirtschaftlichen Bereich geht werden sicher auch bedacht – vor allem, wenn’s zB. die eigene Fima betrifft.

  2. Na, dann bin ich auf Deine nächsten Blogposts gespannt. Denn Du beschreibst hier, aus einem bestimmten Blickwinkel, was uns alle verbindet. Das ist schön, aber gar nicht das Problem. Das Problem liegt darin, wo es klemmt.
    Um es mal völlig unzulässig verkürzt in einen Satz zu fassen, was mich (und viele andere) gerade so abnervt: Leute, die allen anderen ihre Inhalte, ihre Sichtweisen, ihre Ideologie aufzwingen wollen und sich nicht mit Mehrheitsentscheidungen abfinden können.
    Das trifft auf viele (ich denke sogar auf die meisten) Mitglieder der Plattform nicht zu, aber die Plattform gibt diesen eine Heimat. Und das ist in meinen Augen alles andere als progresssiv.
    Davon wird mein nächster Blogpost handeln.

    LG, Stahlrabe

  3. Es gibt hier eine ganz grundsätzliche Unterscheidung zwischen dem einzelnen Menschen und einer Ideologie, der er selbst verfolgt. Der Mensch SELBST sollte IMMER außen vor bleiben, die Ideologie darf meinetwegen gerne beurteilt werden. Im Falle der piratischen Gates wird der Mensch mit seiner vertretenen Ideologie gleichgesetzt. Das ist das, was den Menschen verletzt, wenn er selbst ausgegrenzt wird, statt nur seine Ideologie:

    Braucht ein Mensch überhaupt Ideale? Und vor allem weshalb? Welchen zweck haben Ideale, die logischerweise niemals erreicht werden können?
    Welchen Sinn, hat etwas, das es nicht gibt? Lebt es sich mit Illusionen, die der (ideologische) Glaube erzeugt leichter oder bequemer?
    Ist es sinnvoll nur nach gut/böse, schwarz/weiß, pro/contra, (alle dualistischen Begriffspaare einfügen), zu leben? Ist das eine Bereicherung desselben?

    Warum benötigt der Idealist(Ideologe ein Feindbild? Warum muß wohl der Idealist/Ideologe RECHT haben?

    Weshalb ist für einen Idealisten/Ideologen der Begriff Freiheit ein WERT an sich statt ein Zustand (zwischen Menschen)?

    Ist eine Wertung kein emotionaler Vorgang? Wie kann ein WERTENDER Mensch von Wissen reden?

    Wie frei sind Menschen, die werten? Sind Menschen voller Emotionen in der Lage zu fühlen? Ist emotionslos dasselbe wie gefühllos?

    Sind Menschen über Emotionen oder über ihr Fühlen manipulierbar? Weshalb hat Propaganda diese riesige Reichweite? Weil Menschen über Wissen verfügen?

    Begriffe über Begriffe und keiner kennt die Antworten.

    In Erweiterung an Kierkegaard
    Der Anfang des WERTENS ist das Ende der Zufriedenheit

    Gruß

  4. Freiheit, Gerechtigkeit und Sicherheit sind ihrem Sinn nach ZUSTÄNDE zwischen Menschen und KEINE Werte. Ein Wertekanon ist ideeles Gedankengut, das nicht sinnstiftend sein kann.
    Denn etwas, das es nicht geben kann, wie das unveränderliche IDEAL, kann es auch kein Wissen geben. Es kann keinen SINN ergeben. Es wird Zeit die menschlichen Konstrukte zu erkennen und als Illusion aufzugeben.
    Etwas Sinngebendes kann mit den Sinnen erfahren werden, das kann eine Illusion des Idealen gerade nicht.
    Etwas sinngebendes kann der Mensch nachvollziehen, er kann es verstehen, er kann es fühlen. Etwas Sinngebendes ist mit dem Verstand verbunden, mit Wissen.
    Einem Menschen kann Information eingetrichtert werden. Diese kann er auch wiedergeben, das ist jedoch kein Wissen, sondern nur die Wiedergabe einer Information. Erst wenn er die Information nachvollziehen kann, wenn er sie versteht, mit dem Verstand erreichen kann, ist für ihn Wissen entstanden.

    Mit heutigen oder gar gestrigen Weltanschaungen kann sich an den Ergebnissen nicht sonderlich viel ändern.

    Wie frei ist ein Mensch, der etwas zum Leben benötigt, das es NACHWEISLICH nicht gibt: GELD?

    Geld ist eben kein Tauschmittel, es ist ein reines MANIPULATIONSmittel, wie jedes Ideal.
    Wurde darüber nur einmal geredet im Zuge des BGE?
    Sozialpolitik ist völlig überflüssig, denn es gibt doch das BGE…

    Geld ist in seinem Zweck A-sozial. Die Behauptung mit einem BGE entstände Soziales oder gar Freiheit ist ein Fehlschluss, eine ILLUSION.

    Freiheit bedingt das selbstbestimmte AUSkommen des Einzelnen und kein fremdbestimmtes Einkommen. Vielleicht einfach mal Milton Friedman und andere neoliberale Größen lesen und Zusammenhänge verstehen lernen.

  5. Kann man erst mal so zustimmen !
    (vermeide jetzt das „Aber“ aus Gründen) 😉

    Unser Grundsatz-Programm hat sich bestimmt aus den von dir genannten Ansichten genau so entwickelt. Mit den vielen Wahlprogrammen zusammen haben wir eines der umfassendsten Programme der deutschen Parteien. Und wenn ich mir Außen-, Wirtschafts-, und Innenpolitik so anschaue, dann sind wir bestimmt noch nicht fertig.

    Ok, dies alles hat sich aus der Netzpartei entwickelt. Auch dies bestreitet keiner, und will auch erst mal keiner direkt ändern. Was aber einige Piraten machen wollen ist, aufzuzeigen wo wir unseren Fokus liegen haben. Und dies ist gut so, denn wer wirklich öfter draußen an den Infoständen steht oder sich mit Menschen außerhalb der Bubble unterhält kennt die beliebtesten Fragen:
    1 – „Für was steht die Piratenpartei eigentlich?“
    2 – „Warum streitet ihr euch immer ?“

    Zu 1. kommt dann z.B. die Antwort des Netz-, BGE-, Energie- oder des Flüchtlingspiraten der seine Sichtweise und seinen Standpunkt bestimmt gut vertreten kann. Der etwa neutrale Pirat kommt aber schon ins schwimmen und fängt an aufzuzählen. Der Programm Pirat dreht sich dann um, holt die hunderte Seiten Grund- und Wahlprogramm hervor und sagt: „Suchen sie sich was aus – wir haben von fast allen etwas !“
    Dies wird den Frager jetzt bestimmt überzeugen, oder ?

    Zu 2. Erstaunlicherweise kommen hier (in der Thematik) fast die identischen Antworten wie zu 1.
    Der Bombergategegner wird sagen über diese Idioten. Der sozialliberale Gegner sagt über diese Ideologie-Idioten. Der relativierende Pirat sagt – Eigentlich nicht mehr als andere Parteien auch,. halt nur transparent in der Öffentlichkeit.
    Dies wird den Fragen jetzt bestimmt überzeugen, oder ?

    Nein, auch wenn es einem schwer fällt, irgendwann ist Beliebigkeit nicht mehr greifbar. Dann will der Bürger Richtungen und klare Kernthemen, und weniger öffentlichen Streit..
    Und dies müssen wir jetzt entwickeln und auch in den Vordergrund stellen. Möglich in einer (Basis-) demokratisch orientierten Partei durch Mehrheitsbeschlüsse.
    Dies bedeutet aber nicht, dass die anderen Programmpunkte nicht mehr da sind, sie stehen ebenso im Programm und können bei Diskussionen über das Thema als Grundlage dienen. Also was hat sich geändert seit Halle ?
    Haben wir da unser Programm verraten ? Und hat sich die Mehrheit gesagt wir wollen Programmpunkt 12, 15, 33 und 44 nicht mehr ? (Braucht nicht nachschauen – Punkte sind willkürlich gewählt – 😉 )
    Oder wo hat dabei die Mehrheit die Minderheit getreten, oder wo hat sie sie ausgeschlossen ?

    Deshalb ist dein Blog zwar schön, und ich kann ihm zustimmen, nur zur Lösung der jetzigen Situation trägt er wenig bei – und deshalb werden dir die Piraten noch länger auf den Wecker gehen – leider. Denn Lösungen sehen anders aus.

    Seit Halle grenzt sich eine Gruppe innerhalb der Piraten mit völlig unpiratischen Werten (Bürgen, Veto, Machtanspruch) von der Mehrheit ab, und dies ist für eine kleine Partei tödlich. Und zwar weil sie die Mehrheit nicht anerkennt!
    Minderheitenschutz ist OK – aber um ihn zu bekommen sollte man erst mal die Mehrheit anerkennen.
    Und noch etwas – Wer die Konfrontation scheut, kann schwerlich eine Friedensverhandlung führen.

    JM (etwas lange) 2C

    Gruß Jürgen

  6. Ich bin zwar zu jung für dieses Usenet, aber sozialisiert im Netz bin ich auch 🙂

    Insbesondere im Studium (weil GNU/Linux) bin ich mehr mit FLOSS-Werten in Kontakt gekommen und finde die Überzeugen verfolgenswert.

    Von daher nur ein ACK 😉

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